Die Bilder vom 27. März 2020 gingen um die Welt: Der fast menschenleere Petersplatz in der Abenddämmerung. Nieselregen, der in strömenden Regen überging. Diese Bilder wurden zum Sinnbild für die neue Normalität inmitten von Krise und Lockdown. Ohnmächtig wirkte Franziskus an deren Ende er mit der Monstranz der Welt den außertourlichen »Urbi et orbi«-Segen spendete, den es sonst nur zu Weihnachten und an Ostern gibt. Es waren großartige Bilder. Neben diese Bilder stellt sich nun ein Programm, und man merkt: Der Papst hat diese Monate der Pandemie genutzt, um nachzudenken.
In aller Klarheit spricht der Papst die Themen an, die „nach Covid“ so nicht bleiben dürfen – weltweit. Wer möchte nicht von besseren Wegen aus diesem „Corona-Irrgarten“ träumen zu wagen, der trotz der vielen Monate mit Maske-AHA und Lockdown immer auswegloser und erfolgloser wird, wie die täglichen Horrormeldungen zeigen. Neben Corona gibt es noch viele andere unsichtbare Viren, vor denen wir uns schützen müssen . Wie gehen wir mit den verborgenen Pandemien dieser Welt um, den Pandemien des Hungers und der Gewalt und des Klimawandels? Sind wir auch vom Virus der Gleichgültigkeit infiziert?
Die Corona-Krise hat die großen gesellschaftlichen Probleme wie ein Brennglas verdeutlicht. Wirtschaftliche Ungleichheit, Existenzängste und Sorgen um die Gesundheit bestimmen das tägliche Denken. Das Oberhaupt von weltweit über einer Milliarde Menschen hat dies mit großer Sorge beobachtet. Zugleich stellte er aber auch eine große Kreativität bei den Menschen fest, um mit dieser globalen Krise umzugehen.
Für Papst Franziskus gibt es kein Zurück zur Normalität vor der Corona-Pandemie. Die Corona-Krise hat die grossen gesellschaftlichen Probleme wie ein Brennglas verdeutlicht. Wirtschaftliche Ungleichheit, Existenzängste und Sorgen um die Gesundheit bestimmen das tägliche Denken.
Der Papst zeigt einfacher und zugleich kraftvoller Sprache Hilfeleistungen für den Weg aus persönlichen Krisen auf: „Eine meiner Hoffnungen für die gegenwärtig durchlebte Krise ist, dass wir wieder in Kontakt mit der Wirklichkeit kommen. Solch eine Hoffnung mag merkwürdig klingen in einer Zeit, in der wir uns nicht begegnen können. Wir müssen vom Virtuellen zum Realen kommen, vom Abstrakten zum Konkreten, vom Adjektiv zum Substantiv. Es gibt viele echte Schwestern und Brüder aus Fleisch und Blut, Menschen mit Namen und Gesichtern, benachteiligt auf eine Art und Weise, die wir hinter unseren Mauern nicht sehen oder erkennen konnten, weil wir so mit uns selbst beschäftigt waren. Aber einige dieser Augenblicke sind nun weggefallen und wir haben die Chance, mit neuen Augen zu sehen.“
Papst Franziskus hat eine Vision für eine «Post-Covid-Welt». Er führt aus, warum die Welt nach der Pandemie nicht mehr zu den falschen Sicherheiten der politischen und ökonomischen Systeme vor der Krise zurückkehren kann.
Zugleich blickt er zurück auf seine bisherige Amtszeit und erklärt, warum ihm Themen wie der Klimawandel und gesellschaftliche Veränderungen wichtig sind.
Einige Passagen zeigen die Grundideen dieses Buches:
Wirtschaft
«In einigen Fällen haben Regierungen versucht, vor allem die Wirtschaft zu schützen, vielleicht weil sie das Ausmaß der Krankheit nicht begriffen oder weil ihnen die Mittel fehlten. Diese Regierungen haben ihrer Bevölkerung schwere Hypotheken aufgebürdet. Die Krise hat gezeigt, welche Prioritäten die Regierenden hatten, ihre Werte wurden aufgedeckt.»
Covid
«Wir tragen Gesichtsmasken, um uns und andere vor einem Virus zu schützen, den wir nicht sehen können. Aber was ist mit all den anderen unsichtbaren Viren, vor denen wir uns schützen müssen?»
Schöpfung
«Gott fordert uns auf, es zu wagen, etwas Neues zu erschaffen. Wir können nicht einfach zu den falschen Sicherheiten der politischen und ökonomischen Systeme von vor der Krise zurückkehren. Wir brauchen ein Wirtschaftssystem, das allen Zugang zu den Früchten der Schöpfung verschafft, zu den grundlegenden Bedürfnissen des Lebens: zu Land, zu Arbeit und zu Wohnraum.»
Armut
«Wir brauchen eine Politik, welche die Armen, Ausgeschlossenen und Schwachen integrieren und mit ihnen einen Dialog führen kann, einen Dialog, der den Menschen ein Mitspracherecht bei den ihr Leben bestimmenden Entscheidungen gibt.»
Schauen
«Ich war immer davon überzeugt, dass der Blick auf die Welt klarer ist, wenn sie von der Peripherie aus gesehen wird, aber in den vergangenen sieben Jahren als Papst ist mir das noch einmal so richtig deutlich geworden. Du musst an die Ränder gehen, um eine neue Zukunft zu finden.»
Gleichgültigkeit
«Covid hat jene andere Pandemie demaskiert, den Virus der Gleichgültigkeit, das Ergebnis des dauernden Wegschauens und des Sich-Einredens, dass, weil es keine sofortige oder magische Lösung gibt, es besser ist, gar nichts zu fühlen.»
Mensch sein
«Social distancing ist eine notwendige Antwort auf die Pandemie, aber sie kann nicht andauern, ohne unsere Menschlichkeit auszuhöhlen. Wir sind nicht nur für Verbindungen, sondern zu Kontakt geboren.»
Missbrauch
«Die Schaffung einer Kultur der Fürsorge wird Zeit brauchen, sie ist aber eine unvermeidliche Verpflichtung, auf der wir mit aller Deutlichkeit bestehen müssen. Es darf keinen Missbrauch – sei es sexueller Art oder von Macht und Gewissen – mehr geben, weder innerhalb noch ausserhalb der Kirche.»
Macht
«Die Sünden der Mächtigen sind fast immer Sünden einer Anspruchshaltung, begangen von Menschen, deren Schamlosigkeit und dreiste Arroganz atemberaubend sind. In der Kirche ist dieses Gefühl der Anspruchshaltung das Krebsgeschwür des Klerikalismus, wie ich es nenne, eine Perversion dessen, wozu Priester berufen sind.»
Wandel
«Tradition ist kein Museum, wahre Religion ist kein Gefrierschrank und Lehre ist nicht statisch, sondern sie wächst und entwickelt sich, wie ein Baum, der immer derselbe bleibt und doch wächst und immer mehr Frucht bringt.»
Lösungen
«Es geht um die gemeinsame Suche nach gemeinsamen Lösungen zum Nutzen aller.»
Aufarbeitung
«Für eine echte Geschichte braucht es Erinnerung und das verlangt von uns, dass wir die gegangenen Wege anerkennen, auch wenn sie beschämend sind.»
Gesunden
«Lange Zeit dachten wir, wir können gesund bleiben, auch in einer kranken Welt. Aber die Krise hat noch einmal nahegebracht, wie wichtig es ist, für eine gesunde Welt zu arbeiten.»
Zukunft
«Es ist eine Illusion zu glauben, dass wir zu den alten Zeiten zurückkönnten. Restaurationsversuche führen uns immer in eine Sackgasse.»
Paradox
«Die Pandemie hat uns auf das Paradox hingewiesen, dass obwohl wir immer mehr untereinander verbunden sind, wir gleichzeitig auch stärker voneinander getrennt sind.»
Persönliche »Covid«-Erfahrungen
Papst Franziskus spricht ganz offen über Krisen, der er als„Covids“ bezeichnet und die ihn nachhaltig geprägt haben: die lebensbedrohliche Erkrankung als 21-jähriger, die zur Teilentfernung eines Lungenflügels führte (»Covid der Krankheit«: »Ich kann mitfühlen, wie es Menschen geht, wenn sie mit dem Coronavirus am Beatmungsgerät um Atem ringen«); der »freiwillige« Studienaufenthalt in Deutschland im Jahr 1986, als 50-jähriger, nach seinen Amtsjahren als Provinzial der argentinischen Jesuiten und Rektor eines großen Kollegs (»Covid der Vertreibung«: »Aber dort fühlte ich mich völlig fehl am Platz«); und die Jahre 1990 bis 1992 als Seelsorger in Córdoba, der zweitgrößten Stadt Argentiniens (»Covid der Reinigung«) – eine Zeit der Läuterung, die er präzise datiert: ein Jahr, zehn Monate, dreizehn Tage, »die Quittung dafür«, dass er »damals sehr harsch sein« konnte.
Damals las Jorge Mario Bergoglio »alle 37 Bände von Ludwig Pastors Geschichte der Päpste«. Die deutsche Originalausgabe umfasst 16 Bände (in 22 Teilbänden), die spanische Übersetzung über die doppelte Anzahl). Er konnte nicht ahnen, dass er einmal selber in dieses Amt gelangen würde: »Es war, als ob Gott mich mit einer Art Impfung vorbereitet hätte. Wenn du einmal diese Papstgeschichte kennst, dann kann dich wenig von dem, was im Vatikan und in der Kirche heute passiert, noch schockieren. Es hat mir sehr geholfen!« Entwaffnend ehrlich: »Ich muss mich bei der Leitung der Kirche davor hüten, in dieselben Fehler zu verfallen, die ich als Ordensoberer hatte.«
Persönlichen Krisenzeiten wurden und werden für Franziskus zu Lernzeiten. Ob es fruchtet, dass er angesichts der Corona-Pandemie die Welt beschwört, in sich zu gehen? Franziskus gibt sich überzeugt: »Dies ist ein Augenblick, große Träume zu träumen, unsere Prioritäten zu überdenken – was wir wertschätzen, was wir wollen, was wir anstreben – und uns zu entschließen, in unserem alltäglichen Leben das zu tun, wovon wir geträumt haben.« Und: »Mich erfüllt das mit der Hoffnung, dass wir mit einer besseren Zukunft aus dieser Krise herauskommen. Aber wir müssen klar sehen, gut wählen und richtig handeln.«
Sehen – Wählen – Handeln
Dieser Drei-Schritt macht auch die drei Kapitel aus: »Eine Zeit zum Sehen« (19-65), »Eine Zeit zum Wählen« (69-122) und »Eine Zeit zum Handeln« (126-170). Vielleicht ist es auch das Alter des Papstes, das ihn prekäre Situationen glasklar sehen lässt. Und es klingt schon fast wie ein Vermächtnis: »Denn dort bin ich angelangt: am Ende meines Lebens.« Er warnt vor »billigem Trost«.
Romano Guardini wird immer wieder als Inspirator erwähnt: »Wenn du dich nicht öffnest, kannst du nicht unterscheiden. Daher rührt meine Allergie gegen Moralismus und andere -ismen, die alle Probleme nur mit Vorschriften, Gleichungen und Regeln zu lösen suchen.«
Neben Guardini trifft man auf John Henry Newman oder Edith Stein, aus dem ersten Jahrtausend auf Theologen wie Vinzenz von Lérins oder Dorotheus von Gaza. Hölderlin, Haydns Schöpfung, Schriftsteller wie Chesterton, Dostojewski, Jorge Luis Borges oder Luis Francisco Bernárdez kommen vor. Wirtschaftswissenschaftlerinnen wie Kate Raworth oder Mariana Mazzucato sind erwähnt. »In einer Krise wird unser Funktionalismus erschüttert und wir müssen unsere Rollen und Gewohnheiten verändern, um aus der Krise als bessere Menschen hervorzugehen.« Sind das nur Predigtworte?
Es klingt fast wie ein Testament: »In einer Krise wie der Samariter zu handeln bedeutet, sich von dem, was ich sehe, berühren zu lassen, wissend, dass das Leiden mich verändern wird. Wir Christen nennen das das Kreuz aufnehmen und annehmen. Das Kreuz anzunehmen, in der Zuversicht, dass das Kommende neues Leben sein wird, gibt uns den Mut, das Wehklagen und den Blick zurück aufzugeben. So können wir aufbrechen, anderen dienen und so Veränderung geschehen lassen, die nur durch Mitgefühl und Dienst am Menschen entstehen kann.«
Auf sieben Seiten finden sich geradezu sensationelle Aussagen über Frauen, die komplexe Situationen »besser sehen« und »schneller reagieren« könnten. Der Papst warnt davor, sie zu klerikalisieren und auf »Funktionen« zu reduzieren. Kein Weiheamt also. Aber: Frauen sind für ihn nicht nur »viel bessere Verwalter«, sondern: »Sie verstehen Prozesse besser und wissen, wie man Projekte vorantreibt.« Als Erzbischof wie als Papst hat er Frauen in hohe Positionen gebracht. Ob man das wertschätzen kann, angesichts der Weigerung, Weiheämter für Frauen zu öffnen? Man erfährt auch nebenbei, warum er auf der Sondersynode über Amazonien nicht darauf oder auf die Frage der »viri probati« eingegangen ist.
Synodalität à la Franziskus
»Unter dem Banner der Restauration oder der Reform«, beklagt Franziskus, »werden lange Reden gehalten und endlose Artikel geschrieben, es werden doktrinäre Klarstellungen geboten und Manifeste verfasst, die wenig mehr sind als die fixen Ideen von kleinen Gruppen. In der Zwischenzeit geht das von Gott zusammengerufene Volk in den Fußspuren Jesu vorwärts, nicht blind für die Fehler der Kirche, aber glücklich, Teil Seines Leibes zu sein, die eigenen Sünden bekennend und um Barmherzigkeit bittend.«
Franziskus hält große Stücke auf das Volk Gottes und seinen Glaubenssinn. Beratung heißt für ihn nicht, nach der Art eines Parlamentes mit wechselnden Mehrheiten zu arbeiten (»Das ist die Version der geistlichen Weltlichkeit«). Für ihn geht es um einen geistlichen Prozess. In der Kirche, für die großen Fragen, setzt er auf das vielzitierte Instrument Synodalität. Für 2022 ist eine Bischofssynode dazu angekündigt. Synodensekretär ist der neue Kardinal Mario Grech. Es komme an auf »respektvolles Aufeinander-Hören, frei von Ideologie und vorherbestimmten Agenden« an: »Das Neue bedeutet manchmal, umstrittene Fragen durch Überfließen zu lösen.«
»Überfließen« – griechisch perisseuo: Das ist ein wichtiges Schlüsselwort. Und es war der »Ausweg« aus verkrusteten Debatten auf den Familiensynoden 2014 und 2015, angestoßen u. a. durch den Wiener Erzbischof, Kardinal Christoph Schönborn, als Dominikaner ein Kenner des Thomas von Aquin. »Lehre und Tradition« will Franziskus »nicht mit den Normen und Methoden der Kirche« verwechselt wissen – eine wichtige Unterscheidung.
»Wenn wir besser aus dieser Krise herauskommen wollen«, so Franziskus, »müssen wir die Idee zurückgewinnen, dass wir als Volk ein gemeinsames Ziel haben«: Solidarität ist für ihn mehr als Großzügigkeit. Ein von Profit getriebener Markt entkopple Ethik und Wirtschaft voneinander. Franziskus propagiert wieder die Ethik des barmherzigen Samariters – auch für die Politik.
Mit 17 hat man noch Träume. Aber mit über 80? In »Wage zu träumen« erweist er sich als agil, jung, aufgeschlossen, neugierig. Er will sich nicht abfinden mit der vielzitierten »Globalisierung der Gleichgültigkeit« Es ist klar, dass Franziskus die Corona-Pandemie nutzen will, um seine Agenda unters Volk zu bringen, und der Krise nicht nur »mit einem Achselzucken« zu begegnen. Er appelliert. Er beschwört. Er mahnt. Und er ermutigt. Corona ist für Franziskus keine Strafe Gottes, wohl aber eine Zeit der Prüfung. Oft kommt er auf Propheten zu sprechen, besonders auf Jesaja. Franziskus lädt in seinem Mutmach- und Trostbuch dazu ein: »Komm, lass uns darüber sprechen. Wagen wir es zu träumen.«
Überhören und übersehen lässt sich dieses Plädoyer des Papstes eigentlich nicht. Abtun kann man es natürlich. Es kommt darauf an, wo er und welche Mitstreiter er findet. Die sucht er nicht nur innerhalb der Kirche. Man wünscht ihm, dass er damit erfolgreich ist. Mit seinem Buch »Wage zu träumen« setzt er Signale nach innen wie nach außen: Die Rede von einer »Zeitenwende« wirkt auf mich nicht übertrieben. Das ist keine Rhetorik oder billige Zivilisationskritik.
Pater Theo Klein SCJ
Originaltitel: Let us dream Originalverlag: Simon & Schuster Hardcover mit Schutzumschlag, 192 Seiten, 13,5 x 21,5 cm ISBN: 978-3-466-37272-0