Soziale Freundschaft. Auf dem Weg zu einer geschwisterlichen Weltordnung nach der Enzyklika « Fratelli tutti » von Papst Franziskus, herausgegeben von Walter Kardinal Kasper und George Augustin

Die Musik des Evangeliums neu hören, eine Hoffnung für alle Menschen

Zum Band Soziale Freundschaft mit Beiträgen zu Papst Franziskus’ Enzyklika Fratelli tutti  

Mit seiner Enzyklika Fratelli tutti hat Papst Franziskus Ende 2020 ein Schreiben vorgelegt, das Walter Kardinal Kasper und George Augustin als Einladung zum Dialog und zum gemeinsamen Engagement für Geschwisterlichkeit verstanden haben. Deshalb haben sie auch ein Buch herausgegeben, für das sie Theologen, Philosophen, Wissenschaftler, Politiker, Wirtschaftler… von verschiedenen Weltanschauungen, Religionen, Nationalitäten gebeten haben, aus ihrer Sicht Stellung zu nehmen zu den vom Papst angesprochenen Themen. 

Die so gesammelten 20 Beiträge zeigen, dass an vielen Baustellen der heutigen Welt eben an jenen Themen gearbeitet wird, die das päpstliche Schreiben als dringend bezeichnet, ein Hinweis darauf, dass Fratelli tutti nicht weltfremd ist, sondern die heutigen Problemfelder Gerechtigkeit, Frieden und Schöpfungsbewahrung auf die Geschwisterlichkeit hin im Blick behält. 

Der Band « Soziale Freundschaft » hat drei große Teile: Theologie der universalen Geschwisterlichkeit; Orientierungen zur Sozialethik; Globaler Dialog und interreligiöse Zusammenarbeit. 

Den drei Teilen sind zwei Hinführungen zum päpstlichen Schreiben vorangestellt. Während Kardinal Kasper sich mit dem historischen, biblischen und anthropologischen Hintergrund des Thema Geschwisterlichkeit befasst, stellt Bruno Forte den Inhalt der acht Kapitel der Enzyklika vor, gibt dabei Impulse zum Weiterdenken und hält fest, dass die Enzyklika durch das menschliche Streben nach einer besseren Welt und einer höheren Lebensqualität für alle motiviert ist, das in einer christologischen und trinitarischen Ethik und Spiritualität zu begründen ist.

Im ersten Teil erläutert George Augustin SAC so dann auch, wie Vaterschaft Gottes und Gotteskindschaft des Menschen zum Gelingen universaler Geschwisterlichkeit beitragen kann. Zum weiteren Verständnis dieser These geht Thomas Söding auf « die vielen Kinder des einen Gottes » ein. Dabei darf der Unterschied zwischen universeller Geschwisterlichkeit und sozialer Freundschaft nicht verwischt werden. Luis Gonzales-Carvajal Santabarbara geht der Frage nach, ob universelle Solidarität soziologisch überhaupt möglich sei, denn sie zeigt in Richtung von dem, was Papst Franziskus mit « politischer Nächstenliebe » bezeichnet. Soziale Freundschaft dagegen ist die Fähigkeit, aus unterschiedlichen Positionen heraus gemeinschaftlich das Beste für alle zu suchen, also das Gemeinwohl. Die „warmen Worte“ des Papstes hört Kerstin Schlögl-Flierl wohl, doch verlangt sie aber auch in der Pandemie sich zu entschließen, was denn notwendig ist und was nicht. Andernfalls ist „die kalte Dusche vorprogrammiert und die im Grund lobenswerten Anstöße verpuffen“. Ähnlich gibt auch Mark-David Janus CSP weitere Impulse zur Psychologie von Fratelli tutti, die ergänzt werden müsse, damit auch Menschen mit mangelndem Einfühlungsvermögen begegnet werden kann. Hier könnte eine ausgearbeitete Psychologie der Vorurteile und der Gleichgültigkeit Hilfe leisten.  

In einem zweiten Teil des Bandes sind Beiträge gesammelt, die sich als Orientierungen zur Sozialethikverstehen. So meint Reinhardt Kardinal Marx, dass das päpstliche Schreiben mit seinem Bemühen um die Peripherien des Menschseins, des Weltseins und des Kircheseins dem synodalen Weg zeigen könne, „wofür die Kirche da ist“. Heinrich Bedford-Strom zeigt, wie „Fratelli tutti“ traditionelle Unterschiede überwindet und so einen wichtigen Beitrag in Richtung einer ökumenischen Soziallehre leistet. 

Hervorzuheben ist so dann der Beitrag von François Biltgen, der als Richter am Europäischen Gerichtshof Fratelli tutti aus der Sicht der „gebotenen Liebe“ und der Menschenrechte liest. Dabei bemerkt er, dass mit dem päpstlichen Schreiben eine auf Solidarität und Gerechtigkeit beruhende Weltordnung möglich sei, die sowohl individuelle Freiheiten als auch soziale Rechte in Einklang bringe. Die Enzyklika könnte so nach den Worten von Théo Klein SCJ „allen Menschen im 21. Jahrhundert Hoffnung schenken“. 

Für John Hope Bryant und Terrence Keeley ist es heute möglich geworden, eine Wirtschaft aufzubauen, die für alle funktioniert, und so halten sie fest: Alles, was hinter Fratelli tutti zurückbleibt, steht unserem gemeinsamen Menschsein im Weg. Über das Wachstumsdenken und die Konsumgesellschaft lässt Thomas Krafft ganz nach den Ausführungen von Papst Franziskus wissen, dass alles mit allem zusammenhängt: das, was mir nützt, was den anderen nützt, was dem Menschen nützt, was der Natur nützt. « Das Gute ist eins » und « mit der Würde des anderen wächst auch meine eigene Würde ». 

In seinem Beitrag „Klima, Kapitalismus, Kirche“ zeigt Ottmar Edenhofer, dass es nicht um einen wie auch immer gearteten Systemwechsel geht, sondern um eine klare Reformoption für eine Wirtschaft, die dem Leben dient. Und hier könnte die katholische Kirche als global player einen wichtigen Beitrag leisten. 

Da Papst Franziskus in seinem Schreiben auch die Rolle der Wissenschaften für die Geschwisterlichkeit hervorhebt, geht Joachim von Braun auf die Zusammenarbeit von Wissenschaftlern, politischen Entscheidungsträgern und kirchlichen Institutionen ein, besonders was die Bewältigung existenzieller Bedrohungen wie Pandemien oder Klimawandel betrifft. Ohne Solidarität sind Freiheit und Gleichheit nur leere Worte, lehrt uns Fratelli tutti, genauso wie die Empfehlungen der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften. Peter Schallenberg geht von einer Analyse des Kapitalismus aus, um auf das Modell der sozialen Markwirtschaft hinzuweisen, von der die Enzyklika nicht explizit genug spricht, die aber das Wohl jeder Person und das globale Gemeinwohl, wie von Fratelli tutti erwünscht, fördern könnte. 

Annette Schavan liest die Enzyklika aus einer politischen Perspektive und hält fest, dass viel Potential für Kirche und Welt darin steckt und dass mit ihr mehr Weltgemeinschaft gewagt werden kann. Im Zeitalter der neuen Mauern, wo Fratelli tutti den Bau jeglicher neuen Mauern verurteilt, entdeckt Massimo Faggioli im päpstlichen Schreiben mit einer neuen Politik und eines neuen Wirtschaftens auch ein Anstoß zu einer möglichen Wiedergeburt des Christentums, wenn es sich als tätige soziale Freundschaft und Liebe versteht. 

Der 3. Teil mit dem allgemeinen Titel „Globaler Dialog und interreligiöse Zusammenarbeit“ beginnt mit einem Beitrag von Andrea Riccardi, der aus der Enzyklika einen gemeinsamen Traum für die Menschheit herausliest und feststellt: Friede ist möglich. Klaus Krämer geht es besonders darum, „gemeinsam die Wahrheit im Dialog“ zu suchen. Das trinitarische Gottesverständnis fördert einen dialogischen Weg zum anderen, auch dort wo man auf Ablehnung und Verweigerung stoßen könnte. Azza Karam setzt bei der interreligiösen Begegnung zwischen dem Christentum und dem Islam an, die in der Papstenzyklika besonders hervorgehoben wird, und zeigt, wie das Schreiben auf die Lebenswirklichkeit aller Menschen aufbaut und somit anschlussfähig für alle Religionen ist. Eine jüdische Perspektive zur Brüderlichkeit zeichnet David Rosen auf, geht dabei auf die lange nicht immer gute Geschichte zwischen Juden und Christen ein, und freut sich über die erstaunliche Wiederentdeckung der Bruderschaft zwischen Juden und Christen, „ein Segen, der als Paradigma der brüderlichen Versöhnung der ganzen Menschheit dienen könnte“. Aus islamischer Perspektive erläutert Mouhanad Khorchide mit HiIfe des Korans Geschwisterlichkeit und plädiert für die Überwindung exklusivistischer Haltungen in den Religionen. 

Der aufschlussreiche und beachtenswerte Band schließt mit einem Beitrag von Felix Körner SJ, der die Musik des Evangeliums in Erinnerung ruft, die Papst Franziskus „in unseren Häusern, in der Öffentlichkeit, an unseren Arbeitsplätzen, in der Politik und in der Wirtschaft“ hören will, und die uns motivieren soll, über die Vaterschaft Gottes der Geschwisterlichkeit – der Würde – aller Menschen volle Anerkennung zu verschaffen. 

P. Jean-Jacques Flammang SCJ

Soziale Freundschaft. Auf dem Weg zu einer geschwisterlichen Weltordnung nach der Enzyklika « Fratelli tutti » von Papst Franziskus, herausgegeben von Walter Kardinal Kasper und George Augustin, ist erschienen im Matthias Grünewald Verlang, 2021, ISBN 978-3-7867-3270-9, 406 Seiten. 

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